Passend zur Vorweihnachtszeit heute etwas zum Thema „Basteln“. Dazu erst einmal etwas Hintergrund.
Abstrakt ausgedrückt (so wie Mr. C sich mal als eine Art „Hausmeister“ bezeichnet hat) könnte man sagen, ein Teil meiner Arbeit besteht darin, Metriken zu definieren. Eine Metrik ist so etwas wie eine Bewertungsskala. So eine Skala kann eine Dimension, haben – man kann dann alle Werte auf einer Achse darstellen. Zum Beispiel: Die gefühlte Temperatur. Diese Achse muß nicht unbedingt in Grad Celsius sein; ein Wertebereich von „schweinekalt“ bis „unerträglich heiß“ mit einer Handvoll Zwischenwerten ist manchmal das Beste.
So eine Metrik kann auch mehr als eine Dimension haben. Die Kunst besteht darin, wenige, aber „kraftvolle“ Achsen zu finden. Das heißt, jede Achse muß für etwas stehen, was aus der Nutzersicht wirklich wichtig ist. Gerade wenn solche Metriken für Rangfolgen eingesetzt werden und man zu viele Achsen hat, passiert es schnell, daß jeder Kandidat Testsieger für irgendetwas ist, was die ganze Sache leicht sinnlos macht (schwächere Testkandidaten lieben es, weil sie dann eben auch eine Chance haben, auf großen Plakaten mit einer Platz 1-Wertung anzugeben).
Das hat auch etwas mit der „Philadelphia“-Regel zu tun; ich meine die Szene aus dem Film, in der jemand sagt: „Erklären Sie es mir, wie Sie es einem Fünfjährigen erklären würden“. Ich fand immer, daß dies eine gute Maxime für Erklärungen ist. Klar, es gibt Dinge, die bekommt man nicht in einer Bildzeitungs-Schlagzeile unter. Dinge einfach auszudrücken macht mehr Arbeit, aber meist lohnt sich die kleine gedankliche Extrameile.
Als ich also neulich, in einer kleinen Tanzpause, in der Linken eine gutgemixte Caipirinha, lässig auf der am Rand der Tanzfläche aufgestellten Ottomane lag und mir von zwei heißen Tangueras (die ich natürlich zuvor codigogerecht per Cabeceo klargemacht hatte) den Rücken kraulen ließ (irgendwie mußte ich ja herausfinden, wer von den beiden das Privileg der nächsten Tanda mit mir bekommen würde), dachte ich: Warum nicht versuchen, dieses Know-how mal auf eins meiner Hobbys anzuwenden, die Tangomusik (äh…sorry, C…ich meine natürlich nicht Hobby, sondern einen superwichtigen Aspekt meiner allesverzehrenden Leidenschaft, diesem sinnlichen Tanz aus BA, dem wir alle möglichst täglich durch ekstatisches Bewegen unserer halbnackten, schweißbedeckten Körper unsere Verehrung erweisen…aber ich schweife ab).
Dieser Gedanke war natürlich auch von den Überlegungen geprägt, die ich in meinem letzten Post schriftlich niedergelegt habe. Was, wenn es gelänge, eine Skala (idealerweise eine einzige Zahl) zu finden, bei der nahe beieinanderliegende Werte für tänzerisch ähnliche Musikstücke stehen? Eine Tanda zusammenzustellen, wäre damit entscheidend einfacher geworden.
Beziehungsweise noch viel besser: Es würde den Weg aus dem Gefängnis von plumpen mechanischen Regeln weisen. Es würde schlechten oder mittelmäßigen DJs helfen, bessere Leistungen abzuliefern. Vielleicht würde es guten und spitzenmäßigen DJs ein wenig wehtun, weil ihre Leistungen dadurch weniger herausragen würden. Zum einen finde ich, daß dies ein kleiner Preis für eine flächendeckend bessere musikalische Versorgung von Tangoland wäre. Zum anderen kann ich mir vorstellen, daß auch gute DJs noch profitieren könnten, weil sie gesparte Zeit zur Verbesserung ihrer eigentlichen Magie einsetzen können.
Okay, das setzt natürlich voraus, daß die Methode auch etwas taugt; und so sehr es mich drängt, schon mal an meiner Dankesrede für die Verleihung des Nobelpreises in der Kategorie Tango-Djing zu arbeiten, sollte ich vielleicht endlich mal erklären, worauf ich eigentlich hinaus will.
Für mich ist die wichtigste Kategorie beim Tanzen die emotionale Farbe der Musik. Das „eisekalt“ meiner persönlichen Skala liegt ungefähr im Bereich instrumentaler Guardia Vieja-Marschmusik; am wärmsten wird es bei den sanften, lyrischen Vokalstücken.
Dann ist da noch die Komplexität der Musik. Ich gestehe, daß dies für mich selbst kein ganz so wichtiger Faktor ist. Das liegt nicht daran, daß ich mich für einen so tollen Tänzer halte, sondern daran, daß ich bei Musik, die mich innerlich berührt, einfach nicht so sehr darüber nachdenke, sondern versuche, alle Sinneskanäle aufzumachen und es einfach laufen zu lassen. Auf der anderen Seite finde ich es aber auch sinnvoll, wenn man für Tänzer aller Skill-Level passende Tandas im Angebot hat. Auch wenn ich Anhänger von „no pain, no gain“ und „no risk, no fun“ bin, sollte ein DJ dennoch so nett sein, den Tänzern ein bißchen Planbarkeit zu liefern. Unter diesem Aspekt, in Verbindung mit einer möglichen Nutzung einer solchen Skala fürs Djing, wäre meine zweite Achse also der tänzerische Schwierigkeitsgrad.
Warum nenne ich das Ganze „Experiment“? Weil mir hier so eine Art Crowdsourcing vorschwebt. Die Idee ist herauszufinden, wie persönlich eine solche Skala ist. Es könnte ja sein, daß jeder, aus dem Blickwinkel einer solchen Metrik, eine komplett andere Sicht auf ein Musikstück hat. Das macht diese Begriffe dann zwar nicht nutzlos (zumindest solange man noch in der Diskussion darüber seine Wahrnehmung schärfen kann), aber eben ungeeignet für den Zweck eines Gruppierkriteriums für Tandas.
Der Set-up des Experiments sieht so aus: Man nehme eine gewisse Zahl von Tangostücken und frage eine ausreichende Zahl von Leuten nach ihrer Einstufung dieser Musik auf den Skalen, die man verwenden will. Es geht um subjektive Wahrnehmung; die „Probanden“ sollen also gerade nicht per Schulung zu einer Art Bewertungsmaschine werden. Im Gegenteil – je mehr aus dem Tangotänzerbauch heraus, desto besser.
Das Ganze braucht natürlich eine gewisse Unterstützung durch eine passende Infrastruktur. Leider ist es mir bisher noch nicht gelungen, im Rahmen der Genderforschung oder auf anderem Wege sechsstellige Summen an Drittmitteln einzuwerben. Auch die GEMA wäre sicher nicht damit einverstanden, wenn ich meine Test-Musikstücke einfach mal so zum Anhören hier bereitstellen würde. Der Plan sieht daher wie folgt aus:
- Es gibt eine Deezer-Playliste. Diese kann jeder per Browser oder App laden, um die Test-Stücke anzuhören
- Dazu gibt es eine hier download-bare Textdatei mit den Bezeichnungen der Stücke und Spalten für die beiden Bewertungsachsen.
- Dann: Anhören der Stücke, Eintragen der Bewertungen in die Tabelle, das Ganze dann per E-Mail an mich schicken.
Vor einiger Zeit hatte ich mal eine Playliste aus den Musikempfehlungen von Kapitel 4 von „Tango and Chaos in Buenos Aires“ gebaut. Ich finde, daß diese für den Zweck schon so gut geeignet ist, daß es sich nicht gelohnt hätte, eine andere zu erzeugen (je nach Resonanz kann man das immer noch machen)
Hier ist sie: http://www.deezer.com/playlist/1339974165
Bei dieser Playliste gibt es drei Möglichkeiten.
- Ist jemand bereits Deezer-Abonnent, kann die Playliste direkt geladen und angehört werden (oder man wird „Follower“ von Yokoito und kann sie dann direkt sehen; der Name ist Yo_TcBA4)
- Man kann sich für die freie Variante von Deezer registrieren. Damit ist es möglich, die komplette Playlist durchzuhören.
- Man registriert sich nicht, sondern legt einfach los. Es lassen sich dann jeweils nur die ersten 30 Sekunden eines Stücks hören. Angesichts dessen, daß wohl so ziemlich alle Stücke von diversen Milongas bekannt sein sollten, sollte selbst das reichen.
Hoffe, das funktioniert so…wenn jemand eine Idee hat, wie man es (im Rahmen obengenannter Randbedingungen) noch verbessern kann, freue ich mich über eine Beschreibung per Mail oder Kommentar. Das gilt übrigens auch für Meinungen zu Sinn und Unsinn der gewählten Bewertungsachsen. Wenn jemand eine zusätzliche oder andere Dimension im Sinn hat: einfach (mit den Werten) als Spalte rechts an die Tabelle dranhängen.
Die Play/Bewertungsliste ist eigentlich vom Typ „Textdatei (Tabstopp-getrennt)“. Leider erlaubt mir WordPress nicht, diesen Dateityp bereitzustellen. Daher hier die Excel-Version: yo_tcba4. Wer die Textversion haben möchte, möge mich bitte anschreiben, ich schicke sie dann per Mail.
Noch ein kleiner Hinweis an die Musikwissenschaftler unter Euch: wenn Ihr findet, daß die Liste zu ungenau ist, etwa weil Jahreszahlen fehlen… bei allem Respekt…dürft Ihr das behalten. Es geht darum, aus dem Hören der Musik heraus die Kennwerte möglichst spontan hinzuschreiben und nicht, sie aus Katalogwissen herzuleiten.
Die Mailadresse für den Rücklauf ist: Yokoitob@gmail.com
Keine Ahnung, wieviel Rücklauf so eine Aktion generiert – ich hoffe ja schon, daß paar Dutzend ausgefüllte Tabellen entstehen (vielleicht könnt Ihr ja das ganze noch ein bißchen verbreiten helfen?). Ja, ich weiß, das könnte auch als Werbung für Deezer oder schlicht meinen Blog aufgefaßt werden – ich kann hier zehnmal schreiben, daß Neugier mein Hauptmotiv ist, beweisen kann ich es nicht. Ich würde jedenfalls mal sehen, wie die Rücklaufrate so ist, und mit dem Auswerten beginnen, wenn deutlich wird, daß nicht mehr viel reinkommen wird. Falls überraschenderweise ein stetiger breiter Strom von Daten reinkommt, würde ich nach zirka 8 Wochen eine erste Zwischenauswertung machen.
Okay, ein paar Visionen noch (ja, ich kenne den Spruch von Helmut Schmidt). Mal angenommen, es zeigt sich, daß die Metrik was taugt und daß die persönlichen Bewertungen auf Konsens hinweisen (also nicht nur „wildes Rauschen“ ergeben). Eine ganz wilde Fantasie wäre das volle Crowdsourcing-Programm – eine Datenbasis, gefüttert von richtig vielen Tangolandbewohnern und über alle (was immer „alle“ stückzahlmäßig bedeutet) Tangostücke. Eine entsprechende App zu programmieren ist zwar Arbeit, aber eine, die sich durchaus in Grenzen halten würde.
Etwas härterer Techie-Stoff wäre, zu sehen, ob es objektiv, sprich automatisiert, erfaßbare Größen gibt, die mit subjektiven Bewertungen korrelieren. Ein simples Beispiel für etwas, das man ohne viel Aufwand technisch messen kann, wäre die „beat per minute“-Zahl. Ich glaube keineswegs, daß es so simpel ist; aber auch komplexere Sachen wie Muster im spektralen Fingerabdruck eines Stücks lassen sich heutzutage mit zivilem Aufwand automatisch erfassen.
Vielleicht gibt es ja einen tangoaffinen Professor oder Programmierer, der das eine oder andere als Projekt (für ein Gruppenpraktikum würde gut passen) oder etwas in dieser Art umsetzen möchte.
Hoffe jedenfalls, trotz dieser Offenlegung meiner leichten Affinität zum Größenwahn, auf rege Resonanz und bin sehr gespannt, was passiert ….