Der letzte Post hat sich quasi mit dem Rohmaterial befaßt. Hat wirklich jemand gedacht, daß ich Melinas Definitionen einfach so übernehmen wollte?
Bevor wir so richtig auf die nächste Reise gehen, noch ein paar philosophische Überlegungen.
Da wäre zum ersten die Frage, warum wir überhaupt so an Schubladen interessiert sind. Wenn ich Melina richtig verstehe, soll der gestreßte Tanguero (oder gar Milonguero) nicht lange Veranstaltungsprogramme lesen müssen, sondern mit einem Schritt entscheiden können, ob es paßt oder nicht. Worin für mich etwas sehr Anrührendes, Zartes ausgedrückt wird: Vertrauen und Rücksichtnahme. Vertrauen in den Veranstalter, daß er seine Veranstaltung korrekt einsortiert. Und Rücksichtnahme: was gibt es Schlimmeres als ein enttäuschter Milonguero, der das ganze Wochenende lang herumnörgelt (oder gar suboptimal tanzt) und anderen die Stimmung verdirbt? Meine Hochachtung denen, die sich, in diesem Zustand, den anderen ersparen möchten und sich im Zweifelsfall lieber selbst aus dem Spiel nehmen.
Kurz: Das präzise Etikettieren ist, egal aus welchen Motiven, sehr kundenorientiert gedacht und hat damit etwas nun ja, fast schon Nobles. Um einen Trendbegriff zu verwenden: Es zeugt von Achtsamkeit.
Ich traue es mich kaum hinzuschreiben, weil es vielleicht jetzt etwas negativ rüberkommt: es gibt da nur ein klitzekleines Problemchen. Was, wenn es eben nicht 100% paßt? Sagen wir, fast alle Indikatoren weisen auf ein Encuentro Milonguero hin. Nur möchte der Veranstalter aber gerne die Abendmilonga auch für das lokale Publikum öffnen. Oder ein zufällig gerade anwesendes Lehrerpaar hat ihm ein Angebot für eine Demo gemacht, das er nicht abschlagen kann.
Was nun? Das Mindeste ist, eine Kategorie „Nonstandard“ einzuführen. Wobei wir schon annehmen dürfen, daß der eine oder andere Tanguero beziehungsweise Milonguero mit Nonstandard aller Arten gewisse Schwierigkeiten hat.
A propos: Vielleicht wäre ja eine brauchbare Definition von „Milonguero“: „mag es gerne ruhig und geregelt, haßt Nonstandard“? Jedenfalls, „jemand, der auf Milongas geht“ wäre, wenn ich Melina richtig verstanden habe, sicher zu einfach, und wenn das vom Wort her hundertmal paßt.
Also nehmen wir lieber sowas wie einen Erfüllungsgrad. Ist eigentlich ganz simpel. Sagen wir, mit den Indikatoren machen wir einen 10-dimensionalen Raum auf. Jeder Veranstaltungstyp ist damit ein Punkt in diesem Raum. Die geplante Veranstaltung kann dann auch durch einen solchen 10-dimensionalen Punkt beschrieben werden. Dann berechnen wir erstmal die Distanz zu allen Veranstaltungen und verwenden als Bezeichnung den Namen des nächstgelegenen Typs. Ist eigentlich ganz simpel. Funktioniert analog zum Satz des Pythagoras, nur eben in 10 Dimensionen. Auf Basis dieser Distanz kann man dann einen prozentualen Ähnlichkeitsgrad bestimmen. Also sagen wir 93% Encuentro Milonguero.
Na ja, vielleicht ist das zu kompliziert. Zwar bin ich immer noch der Ansicht, eine Standardisierung im Tango wäre machbar (siehe einen früheren Post); das wollen wir aber jetzt nicht weiter ausführen.
Es gäbe natürlich noch eine zweite Möglichkeit, wofür man ein solches Definitionssystem nutzen könnte: Ein gewisses, sagen wir mal, freundliches Signal an Veranstalter auszusenden, etwas aus der Liste auszuwählen und sich dann bitte auch an die Definitionen zu halten.
1957 ist die CDU mit dem Slogan „Keine Experimente“ auf ihren Plakaten in den Bundestagswahlkampf gezogen. Ist zwar nicht mehr ganz die Epoca d’Oro, aber immerhin, paßt trotzdem ganz gut.
Nun habe ich selbst manchmal den Impuls, Dinge mit kurzen, prägnanten Worten beschreiben zu wollen. Mal sehen – wie könnte man so etwas nennen? Normierungsdruck vielleicht? Konformitätsdruck? Nein, ist sicher zu negativ. Okay, lassen wir es erstmal dabei. Wie auch schon früher gedacht, habe ich ja auch wirklich nichts dagegen, wenn eine Gruppe (oder Spezies) versucht, die Umweltbedingungen so zu justieren, daß sie es schön gemütlich hat. Gibt es in der Natur ständig, denken wir nur mal an Biber. Oder an Staaten, bei denen nach einem Wahlsieg mit ausreichender Mehrheit erstmal die Verfassung, sagen wir, optimiert wird.
Oje. Das war eine ziemlich lange Einleitung. Kommen wir zur Sache.
Ich habe mir die Tabelle nochmal vorgenommen und sie ein wenig aufgeräumt. Zunächst habe ich alles gestrichen, was mir weniger relevant vorkommt bzw. keine große „Unterscheidungskraft“ hat. Etwa die typische Dauer in Tagen, typische Teilnehmerzahlen, und auch das „separated seating“ (weil es offenbar nur bei Encuentros vorkommt und selbst für Melina offenbar keine normative Bedeutung hat, sondern nur ein Attribut ist).
Dann habe ich (fast) alles entfernt, was nicht echtes Merkmal ist. Also alles mit dem Wert „sometimes“ oder „depends“.
Ziel des Ganzen war auch, die Tabelle transponieren zu können. Offensichtlich gibt es noch weit mehr Möglichkeiten, aus Kombinationen von Attributen weitere Veranstaltungstypen zu erzeugen. Layoutmäßig ist es günstiger, wenn die Tabelle dann in die Tiefe/Länge (statt in die Breite) wächst.
Das Ergebnis:

Die Attributfelder sind leer, wenn die entsprechende Ausprägung nicht charakteristisch für den jeweiligen Typ ist (wo es mir sinnvoll schien, habe ich auch Begriffe aus Melinas ursprünglicher Typologie drin gelassen).
Ach ja…one more thing: Zwar sagt ein altes chinesisches Sprichwort „Getretener Quark wird breit, nicht stark“. Aber erstmal beanspruche ich auch meine Quote an Quarktreten, und außerdem interessiert mich das Thema schon allein aus hobbypsychologischer Sicht. Der aufmerksamen Leserin wird an dieser Stelle auffallen, daß ich das Label „Role/Gender balance selection“ durch ein ehrlicheres Wort ersetzt habe. Klar, es gäbe viele Euphemismen, ich biete an: „Managed Gender Distribution“, oder auch etwas robuster „Gender Distribution Forcing“. Wir brauchen aber auch aus rein tabellentechnischen Gründen was Kurzes, Prägnantes. Ich hatte kurz an „Männerquote“ gedacht. Hat mir dann aber doch nicht so gefallen, und ich habe mich für „Gender Discrimination“ entschieden, denn genau das ist es.
Ich denke, die Natur dieser Sache rechtfertigt einen kriminalistischen Blickwinkel- stellen wir also die klassischen Fragen dieses Genres: Wer hat ein Motiv, und wer hat die Möglichkeit zur Tat?
Erstmal so prinzipiell – als Mann finde ich es natürlich toll, begehrt und umschwärmt zu sein; daß ein Mann solche Dinge einführt, ist also schon mal motivtechnisch nicht ganz so wahrscheinlich. Außer natürlich, das Motiv ist noch ein wenig komplexer – sagen wir, den energieraubenden sozialen Druck zum ununterbrochenen Tanzen verringern. Oder Extrachancen bei der Damenwelt, wenn mann so toll ihre Interessen vertritt.
Falls es die Interessen der Damenwelt sind. Klar, für die Reingekommenen ist es toll – statistisch eine höhere Chance, einen Tanzpartner abzukriegen. Aber im Vorfeld auch das Risiko, gar nicht erst dranzukommen: Alles oder nichts. Ähnlich wie bei Discos mit Türselektion – wer drin ist, fühlt sich als was Besseres. Und offenbar, der Markt irrt ja bekanntlich nie, das beste aller denkbaren Geschäftsmodelle – der Verlust durch Leute, die sagen, das tue ich mir nicht an, ist geringer als der Gewinn durch höheres Prestige einer Exklusiv-Szene.
Abgesehen davon sieht es nochmal ein wenig anders aus, wenn man annimmt, daß es bei der Vorauswahl noch einen Bias gibt. Wenn es also Damen gibt, die sicher sind, daß sie reinkommen (sagen wir, friends and family of the veranstalters). Dies wäre dann sogar eine herrliche Möglichkeit, Rivalinnen auszubremsen.
Das sind natürlich alles rein theoretische Überlegungen. Man könnte auch einfach ein paar Frauen fragen, wie sie sich bei dem Ganzen fühlen. Wo ich das grade schreibe: habe ich das nur übersehen oder gibt es zu diesem Thema einfach so wenig Text im Web, daß ich noch nicht drüber gestolpert bin? Durchaus denkbar, daß es hier – eine weiterer Aspekt, der eine kriminalistische Sichtweise nahelegt – vielleicht ähnlich wie im Bereich des organisierten Erbrechens auch eine Art Schweigekartell gibt: Wer sich beschwert, riskiert, auf die schwarze Liste der Encuentro- und Marathon-Veranstalter zu kommen.
Aber auch, falls hier nur ein Fall von Recherche-Faulheit vorliegt: Es wäre für meinen inneren Philosophen äußerst befriedigend, solche rein aus „first principles“ abgeleiteten Hypothesen durch die Empirie bestätigt zu bekommen.
Als ganzheitlich denkendem Menschen – wie auch als Ingenieur – stellt sich mir automatisch die Frage, wie man eine solche „managed gender balance“ am besten organisatorisch umsetzt – Veranstaltungstexte schreiben ist nicht schwer, aber wie sieht es mit dem tatsächlichen „Policing“ der „policy“ aus? Anmelden als irgendwas kann sich ja jeder.
Ich will mal zugunsten der Veranstalter annehmen, daß sie wirklich „gender“ meinen, also weibliche Führende akzeptieren. Klar, solange man nur nach „Sex“, also dem biologischen Geschlecht geht, ist es simpel – eine körperliche Untersuchung am Eingang (evtl. ließe sich das auch per Nacktscanner machen) – und gut ist. Schwieriger ist es, wenn man auch die Tanzrolle berücksichtigen will. Vor allem – wie hindert man eine Frau, sich als Führende anzumelden und dann doch die Folgenden-Rolle zu tanzen?
Einiges ließe sich bereits durch Taschen- oder Fußkontrollen am Eingang regeln. Eine Dame, die als Führende registriert ist, aber hochhackige Schuhe dabei hat….schon mal verdächtig.
Für „drinnen“ wäre ein Button- oder Bändchensystem in Verbindung mit entsprechenden Kontrolleuren sicher kein großes Problem – ich schätze, es gibt genug Leute, die sowas immer schon mal machen wollten.
Als technikaffiner Mensch fände ich solche primitiven Methoden natürlich eher langweilig; spannender fände ich Hightech-Lösungen. Etwa eine weiterentwickelte Version der elektronischen Fußfessel. Stellt der Bewegungssensor fest, daß die Muster nicht zu den lizensierten Rollen passen, werden zunächst leichte, dann zunehmend stärkere Stromschläge verteilt. Problematisch könnte es nur bei bewegungsminimiertem Tango werden; es ist denkbar, daß die Signalstärke nicht für eine eindeutige Zuordnung reicht. Andererseits sind in so einer Situation leichte Stromschläge für beide vielleicht sowieso eine gute Lösung, um den Tanzfluß in der Ronda aufrechtzuerhalten (woran das geneigte LeserIn erkennt, daß ich Codigos durchaus ernstnehme).
Ja, die Regeln. Ich habe in der Tabelle bewußt eine generische Form gewählt, schließlich wissen wir, daß solche Regeln sich durchaus im Zehn- oder Zwanzig-Jahre-Rhythmus ändern können; unsere kleine Typologie ist für längere Zeiträume gedacht (auch dies bitte ich als kleine Serviceleistung für diejenigen unter uns zu verstehen, die Veränderungen eher nicht so sehr schätzen). Also bitte nicht irgendwelche kurzlebigen „codigos milongueros“, die nach neuesten Erkenntnissen vielleicht noch nicht mal einen Edo-Hintergrund haben. Sondern die Frage: Regeln oder nicht. Liebe Milongueros – soviel Zeit, die Hausordnung der jeweiligen Veranstaltung zu lesen, muß dann schon sein. Nebenbei: Eine kleine Regelkunde-Prüfung vor Betreten wäre eine weitere Möglichkeit, die Reinheit der Veranstaltung zu sichern.
Als kleinen Gruß an alle Freunde der „Managed Gender Balance“ schließe ich für heute mit einem Zitat von Groucho Marx: „Ich mag keinem Club angehören, der [Leute wie] mich als Mitglied aufnimmt.“.