Wieder einer der herrlichen Posts in Vios Blog auf Tangoforge: http://tangoforge.com/finding-my-man/
Wenn ich Texte wie diese lese, denke ich immer, wie schön es doch wäre, wenn ich einfach eine Extremposition konsequent vertreten könnte (sagen wir mal, in die andere Richtung, wie Cassiel oder Christian Tobler). Dieses „Sowohl als auch“ fühlt sich dann immer so schlaff und kraftlos an, gegenüber der Leidenschaft, mit der sich eine solche Extremposition vertreten läßt.
Dummerweise fallen mir, wenn ich probehalber eine solche Position einnehme, oder einen Text aus dieser Ecke lese, Gegenargumente ein, die verhindern, daß es mich in ebendiese Ecke zieht. So daß ich es doch dabei belasse, mich von diesen Texten unterhalten zu lassen. Und mir denke – wie in anderen Koordinatensystemen braucht man die Eckwerte, um eine Dimension aufmachen zu können – aufhalten kann man sich aber überall. Während eine Position an den Eckpunkten schon eine gewisse Einschränkung der Beweglichkeit mit sich bringt. Das ist vielleicht auch einer der Gründe, aus denen radikale Positionen oft mit der Zeit noch radikaler werden. Ich vermute, daß es bei solchen Positionen auch immer um das sich-spüren geht. Die „Extremisten“ haben sich ja oft den Weg zurück ins Moderatere selbst versperrt oder glauben dies zumindest. Ich vermute, weil sie Liebesverlust durch Anhänger befürchten, die sie ja genau mit diesem Positionen gewonnen haben.
Klarstellung: Ich halte Vio für eine Person, die einfach konsequent ihre Ansicht vertritt, und nicht für einen Betonkopf. Das oben Gesagte ist also kein auf Vio gemünztes Intro, sondern gehört in die Kategorie „Was ich mal sagen wollte“.
Noch ein letztes „vorweg“: Mit dem Nacherzählen ist das ja immer so eine Sache. Natürlich könnte ich ihren Text 1:1 übersetzen; werde ich aber nicht tun. Weil sich daraus eine Abhängigkeit ergeben würde, die nicht mein Plan ist. Als Übersetzer würde ich gefühlt eine Verpflichtung übernehmen – dazu sehe ich keinen Grund. Die Nachricht entsteht bekanntlich beim Empfänger. Ich will die Freiheit des kommentierenden Berichtens – in diesem Sinn.
Oh..doch noch was.. Vio verwendet in ihrem Blog eine spezielle Terminologie. Sie nennt die Führenden „Mark“, die Folgenden „Revel“. Das begründet sie auch, hat irgendwas mit Castellano zu tun (seht nach, die Begriffe in ihren Posts verlinken auf diese Erklärung). Ich hätte kein Problem, diese Begriffe zu verwenden. Leider funktioniert das ganze System im Deutschen nicht. Das Schöne beim Englischen ist, daß man ruckzuck von einem Substantiv zum Verb kommt. The Mark marks, the Revel revels. Geht halt in der Sprache meiner Mutter nicht. Die deutsche Version, rückwärts vom Verb her, ist auch nicht überzeugend: „Der Führende“ ist immer noch ein Er und hat zudem dieses Beflissen-Betuliche des political correctness speak. Sonderzeichen in Worten sind nicht mein Ding, das Thema hatten wir schon. Also berufe ich mich auf Vios eigenen Post „The Gender Journey“ und nehme einfach „Mann“ und „Frau“.
Meine Güte. Schon ein ganzer Bildschirm voll und ich bin immer noch nicht beim eigentlichen Punkt.
So, jetzt.
Falls jemand sich fragt, weshalb ich den Titel dieses Posts so und nicht anders gewählt habe und ob da nicht ein Komma zuviel ist: nein. „Raining“ soll auf „Tränen“ verweisen. Let it rain men“ oder „It‘s raining men. Not.“ wäre auch gegangen.
Vio weint nicht wirklich, sie schimpft eher ein bißchen. Darüber, daß die meisten Männer Frauen als ein Mittel zum Gutaussehen einsetzen und sie ihnen ansonsten egal sind, sie also beim Führen nicht „zuhören“. Darüber, daß sie beim Tanzen deutlich macht, daß sie zu allem bereit ist, also körperlich alles mitmacht, was der Mann vorschlägt. Daß aber die allermeisten Männer dieses Angebot nicht annehmen.
Ich habe mich gefragt, wie sich wohl eine Pistenbegegnung mit Vio anfühlen würde. Ich ordne mich selbst tänzerisch irgendwo im Mittelfeld der Verteilung ein. Ab und zu bekomme ich das Kompliment, musikalisch zu tanzen. An Moves habe ich einiges gelernt – und dummerweise ist vieles auch mehr oder weniger Theorie. Mir geht das so, daß ich eine neue Kombination erstmal nur „groß“ kann. Erfahrung, Sicherheit und Zuversicht sind die Zutaten, damit etwas auch auf der Piste klappt und man es auch dem Raumangebot auf der Piste anpassen kann. Mit anderen Worten, es ist ein Henne-Ei Problem.
Was die artistische Seite angeht – selbst in meinen besten Karate-Zeiten, ist jetzt bißchen über 30 Jahre her, hatte ich Probleme mit ansatzlosen Mawashi Geris zum Kopf. Das wäre aber in etwa Vios körperliches Skill-Level.
Mit anderen Worten, auf der artistischen Ebene hätte ich ernsthafte Probleme, Vio zu beeindrucken. Was das Handling einer solchen Power als solches angeht, vermutlich auch. Erstmal begegnen einem solche Tänzerinnen nicht gerade dutzendweise. An meinen guten Tagen, und mit ein klein wenig Platz und der richtigen Musik würde ich sagen, ich kann auch mit einer ziemlich guten Tänzerin Spaß für zwei erzeugen. Zusammengerechnet komme ich vielleicht auf ein oder höchstens zwei Dutzend solcher Erlebnisse.
Damit es da keine Mißverständnisse gibt: ich spreche nicht von Genuß, sondern nur von intensiver Action, die sich auch noch rundum gut anfühlt. Genuß-Tanzerlebnisse habe ich mit vielen Partnerinnen, zu vielen Gelegenheiten.
Als Ziel oder Traumvorstellung finde ich Schwarzgurt-mäßige Körperbeherrschung, Wahrnehmung der Partnerin und des Raums kombiniert mit einem entsprechenden Musikgefühl absolut wünschens- und erstrebenswert. Ohne ein paar Stunden tägliches Tanztraining dürfte das aber kaum jemand schaffen – und wer, der noch einen Job und ein Leben außenrum hat, verfügt über so viel Zeit? Ich jedenfalls nicht.
Im Bild einer „Glockenverteilung“ von Tanzskills liegt Vio vermutlich in den äußeren fünf Prozent. Ich glaube nicht, daß es mehr „passende“ Männer gibt. Wenn ich als Otto Normaltanguero also auf einer 60 Leute-Milonga so um die 10-15 potentielle Tanzpartnerinnen habe („meine“ Seite der Verteilung), sind es für Vio einer oder zwei Männer und ebensoviele Frauen.
Was ich mir von der sprichwörtlichen Fee wünschen würde? Bestimmt auch Top-Tanzskills, allerdings in Kombination mit der Fähigkeit, auch das Einfache genießen zu können.
Wobei ich ansonsten, wie wir Hobbypsychologen sagen, vollkommen bei Vio bin. Die immer wieder gehörte Musik hilft sicher nicht beim „wachen Zuhören“. Nach dem 500. „Bahia Blanca“ hat sich eine solide Automatik in der Motoriksteuerung gebildet, und die Neuronen, die für „körperlich zuhören“ zuständig sein könnten, bekommen andere Aufgaben zugewiesen. Und selbst wenn Frauen anfangs da besser aufgestellt sein sollten, weil für sie ja das Erfühlen beim Folgen Programm ist, hat Vio sicher Recht, wenn sie sagt, daß sie da auch umprogrammiert werden (ich glaube, der Fachausdruck, den sie meinte, ist „versaut“).
Persönlich würde ich sagen, daß da Musik in beide Richtungen eine Rolle spielt. Mit einem gewissen Anteil an selten gehörten Sachen (ich spreche da natürlich auch von Non/Neo), wird die Fähigkeit, wirklich auf die Musik zu reagieren und nicht einfach eine wie auch immer aufgebaute Choreo abzutanzen, erhalten. Daß die Musikart selbst da die Lösung ist, glaube ich dann aber wieder nicht; auch die 100. Wiederholung irgendeines Nontango-Gassenhauers fällt in die Kategorie „Autopilotfutter“.
Ich hatte in einem früheren Post ja mal über meine Vermutungen geschrieben, warum die meisten Tangueros gar nicht so auf wilde Action und permanentes an-die-Grenzen-gehen erpicht sind. Von daher kann ich Vios Leid verstehen, glaube aber, da muß sie einfach durch, weil die Dynamik der Tangoszene nicht für, sondern gegen sie arbeitet.
Ich bin nur nicht so pessimistisch wie Gerhard – ich glaube, Tango ist eine so vielseitige Welt und eine einzigartige Sprache, um Musik körperlich auszudrücken und zu erleben, daß es da keine Einbahnstraße in die Stagnation gibt. So wie es in einer Gesellschaft mal eine bleierne Zeit gibt und dann wieder ein geistiger Aufbruch, ist auch der Tango in der Lage, sich immer wieder zu regenerieren. In meiner Region gibt es beispielsweise eine solide Tradi-Szene, genauso aber wachsen immer wieder gemischte oder reine Non/Neo-Milongas hervor.